Statement vom Türkis Rosa Lila Tipp – 02.12.2023
Seit dem 7. Oktober ist die Welt Zeuge des entsetzlichen Leidens und der Eskalation von Gewalt in Palästina und Israel.
Am 21. Oktober, als fünf Organisationen der Vereinten Nationen in einem gemeinsamen Statement die Welt dazu aufforderten, für Gaza „mehr zu tun“, hing ein*e Bewohner*in der Villa eine palästinensische Flagge aus deren privatem Fenster an der Seitenfassade der Villa. Sie will damit Solidarität mit den Palästinenser*innen zeigen, insbesondere mit queeren Palästinenser*innen, die nun Opfer intersektionaler Gewalt sind. Seitdem wird die Villa ununterbrochen mit Hassmails bombardiert. Die Verunglimpfungen reichen von negativen Stereotypisierungen bis hin zu offenen Beschimpfungen und Unterstellungen, die Villa sei antisemitisch, antijüdisch, antiisraelisch und pro-Hamas. Ein viraler Kommentar eines Journalisten verbreitete die Falschinformation, die Flagge sei gerade am Datum des Novemberpogroms erneut angebracht worden, obwohl sie tatsächlich nie abgehängt wurde. Damit implizierte er, die Villa hätte darauf abgezielt, „expressiv ein Zeichen der Missachtung der jüdischen Gemeinschaft Wiens zu setzen“.
Die FPÖ nutzt diese Anschuldigungen aktuell, um ihren antiarabischen Rassismus und ihre Queerfeindlichkeit zu pushen und ihre Kampagne gegen die Villa fortzusetzen, indem politische Narrative verwendet werden, die unsere Arbeit zum Schweigen bringen sollen.
Darüber hinaus wurde bis zum 29. November in die Villa eingebrochen, einige Gegenstände aus den Verwaltungsbüros gestohlen und eine israelische Flagge an der Fassade der Villa angebracht. Eine öffentliche Drohung auf Instagram folgte, in der Fotos der Villa inklusive der Flagge gepostet wurde mit dem Zusatz: „wir sind direkt um die Ecke“.
Wir weisen all diese Vorwürfe vehement zurück und betonen unsere Position: Wir verurteilen jegliche Gewalt und Extremismus und systematische Verletzungen von Menschenrechten und Menschenwürde.
Die Villa war immer schon und wird auch weiterhin ein Symbol und eine Kämpferin für Gleichberechtigung sein. Genau aus diesem Existenzgrund der Villa sind wir mit ständigen Angriffen extremistischer Gruppen und ihren lautstarken antisemitischen Symboliken und Einschüchterungen konfrontiert.
Die Gemeinschaft der Villa beugt sich nicht dem sozialen Druck, eine normative Position einzunehmen.
Nichts kann das schreckliche Massaker und die Geiselnahme von Zivilist*innen durch die Hamas rechtfertigen. Jeglicher terroristische Akt überall in der Welt muss stärkstens verurteilt werden. Die darauffolgende unterschiedslose Bombardierung und Vertreibung von hunderttausenden von Zivilist*innen in Gaza kann nicht relativiert werden und muss ebenfalls mit stärkstens verurteilt werden.
Wir leisten Widerstand gegen jegliche Form des menschlichen Leidens. Während wir dazu aufrufen, die Wurzeln der Gewalt zu heilen, drücken wir gleichzeitig unsere Empathie aus sowohl für Palästinenser*innen als auch Israelis, die direkt oder indirekt von den Geschehnissen betroffen sind. Wer sich um Menschenleben nur in Gaza oder nur in Israel sorgt, sorgt sich nicht um Menschenleben an sich und hat seine Menschlichkeit längst verloren. Davon sind wir zutiefst überzeugt.
Wir glauben daran, dass Palästinenser*innen und Israelis gleiche Rechte auf Leben, Freiheit und Sicherheit haben. Dies sind Grundrechte aller Menschen.
Wir dürfen uns nie daran gewöhnen, dass die Menschenrechte einer Gruppe wegen bestimmter intersektionaler Merkmale ihrer Identität verletzt werden. Und wir müssen auf der Seite von jenen stehen, deren Menschenrechte verletzt werden.
Wir entschuldigen uns nicht dafür, Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza zu verurteilen. Als Queers kennen wir das Gefühl, gesagt zu bekommen, unsere Existenz sei falsch, unsere Leben wertlos, und unser Verschwinden erwünscht. Wir setzen uns gegen die Unterdrückung und Bedrängung ein. Wir glauben fest an Gleichberechtigung über koloniale, patriarchale und heterosexistische Normen hinaus. Die Villa weigert sich, normative Schubladen zu bedienen, deren Inhalt weitreichend zirkuliert wird in Diskussionen über den Israelischen/Palästinensischen Konflikt. Wir weigern uns, diesem sozialen Druck und einer binären politischer Gruppierung zu unterwerfen.
Sowohl die Mehrheit der Medien als auch extrem rechte politische Parteien wenden binäres Denken auf den palästinensischen-israelischen Konflikt an.
Eine Palästinensische Flagge repräsentiert keine Unterstützung für die Hamas. Die Palästinensische Flagge ist ein global und von der Vereinten Nationen (UN) anerkanntes Symbol der Palästinenser*innen (seit dem 2. Juni 2023 haben 139 von 193 Mitgliedsstaaten der UN den Palästinensischen Staat anerkannt). Das binäre Denken heutzutage fasst die Palästinensische Flagge mit der Hamas zusammen und stellt sie als Symbol der Gewalt anstatt als Symbol der palästinensischen Menschen dar. Analog dazu wird jede Person, die Solidarität mit den Palästinenser*innen zeigt, dämonisiert und der Unterstützung von Terrorismus beschuldigt.
Die Menschenrechte der Palästinenser*innen zu unterstützen, bedeutet nicht, pro-Hamas zu sein. Kritisch gegenüber der Netanyahu-Regierung zu sein, bedeutet nicht, antisemitisch zu sein. Am 10. November sagte der österreichische UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk: „Die Lösung für diese Situation ist das Ende der Besatzung und die volle Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser“. Bedeutet das etwa, Volker Türk sei antisemitisch?
Pinkwashing wird benutzt, um die öffentliche Wahrnehmung des Konflikts zu manipulieren und eine Gesellschaft, eine Menschengruppe, eine Minderheit zu entmenschlichen.
Pinkwashing missbraucht die hart erkämpften Errungenschaften queerer Aktivist*innen. Es wird benutzt, um Gewalt leichter akzeptabel zu machen und den Täter nicht als solchen zu sehen. Durch die Betonung von LGBTIQ+-freundlicher Gesetzgebung und breiter Akzeptanz in Israel auf der einen Seite und gewaltsamer Unterdrückung von Queerness durch die Hamas in Gaza auf der anderen Seite, pinkwäscht das binäre System die Verbrechen ultrakonservativer Gruppen in Israel und macht es offenbar leichter, jede noch so tödliche militärische Aktion in Gaza zu tolerieren.
Queerness lebt überall, auch in Unterdrückung (die im Übrigen eine direkte Erbschaft des Kolonialismus ist). Nur weil unsere queeren Geschwister in Gaza sich nicht so frei äußern können wie unsere queeren Geschwister in Israel, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Es gibt palästinensische queere Aktivist*innen, die durch die pinkgewaschene Unterdrückung zum Schweigen gebracht wurden. Wie viele von ihnen sind inzwischen durch den Krieg gestorben?
Freiheit und Gleichberechtigung stehen im Zentrum unserer Arbeit. Nicht-binäres Denken findet Anwendung in all unserer Arbeit. Binäres Gedankengut führt zu ‚selektivem‘ Verstehen und ist inakzeptabel für queere Solidarität.
Die Villa strebt danach, eine schützende Community zu bilden. Der Kreislauf aus antisemitischer und antiarabischer Gewalt in Wien muss durchbrochen werden durch aktiveres Zuhören, pro-aktiver Fürsorge und dem Gefühl von Gerechtigkeit anstatt durch Entmenschlichung und Rufe nach staatlicher Gewalt und Zensur.
Die Villa verpflichtet sich dazu, einen sicheren Ort der Sorge füreinander zu schaffen. Die Villa wird eine Reihe fürsorge-orientierter Veranstaltungen und Workshops organisieren, in denen Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Araber*innenfeindlichkeit, und jegliche Form des Rassismus im Rahmen der humanitären Krise diskutiert wird. Informationen zu diesen Gruppen werden rechtzeitig veröffentlicht.
Unsere Haltung
- Wir verurteilen Antisemitismus und Kriegsverbrechen. Wir unterstützen nachdrücklich Einigkeit gegen jegliche Form der Entmenschlichung.
- Wir schließen uns der internationalen humanitären und politischen Gemeinschaft zum Schutz aller Zivilist*innen an.
- Wir rufen zur Umsetzung notwendiger Maßnahmen auf, um sicherzustellen, dass die Menschenrechte aller Palästinenser*innen und Israelis vollkommen geschützt werden
- Wir leisten Widerstand gegen Pinkwashing und binäres Denken.
Über die Türkis Rosa Lila Villa:
Die Türkis Rosa Lila Villa ist ein Bestärkungsprojekt von und für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Inter und Trans*gender, das in ihrer Art einmalig ist. Als es 1982 als Hausprojekt startete, war den damaligen Bewohner*innen klar, dass es nicht nur um Wohnraum, sondern auch um emanzipatorische Politik ging.
Unsere Räumlichkeiten umfassen Wohnräume, Büros für Vereine und eine öffentliche Bar/Restaurant für die Community.
Die Villa wird vom Verein Türkis Rosa Lila Tipp verwaltet.
Mehr Literatur:
Bitte beachten Sie auch die Links direkt im Text.
https://www.un.org/en/situation-in-occupied-palestine-and-israel
https://news.un.org/en/story/2023/10/1142652
https://www.un.org/en/situation-in-occupied-palestine-and-israel